Welche Eignung braucht Management? – Nicht Perfektion, sondern die Fähigkeit, trotz eigener Defizite zu führen
Einleitung
Wenn vom Ideal einer Führungskraft die Rede ist, liest man häufig „Sei Vorbild" oder „Führe durch persönliches Beispiel". Wer die Realität kennt, weiß, dass diese Ideale oft Theorie bleiben.
Führungskräfte sind nicht perfekt. Ihre Position bedeutet nicht automatisch Kompetenz – sie tragen schlicht eine Rolle. Manchmal musst du am Tag nach deiner eigenen Verspätung Mitarbeitende wegen Unpünktlichkeit ermahnen. Oder du bist fachlich schwächer und musst dennoch Aufgaben delegieren und Ergebnisse verlangen.
Hier liegt ein Aspekt von „Management-Eignung", den Handbücher selten beleuchten: die Fähigkeit, sich selbst aufs Regal zu stellen.
Was bedeutet „sich aufs Regal stellen"?
Das ist kein Freibrief für Ignoranz. Gemeint ist „Ich bin nicht perfekt, aber ich schlucke den Widerspruch und führe die Organisation trotzdem nach vorn."
Wenn du nur das von Mitarbeitenden verlangst, was du selbst kannst – was passiert dann? Dein Team bleibt in deinem Kompetenzrahmen gefangen. Wachstum und Ergebnisse stagnieren. Oder du versuchst, jede Lücke selbst zu schließen und brennst aus. Und die Arbeit wartet nicht, bis du makellos bist.
Führung heißt, Widersprüche auszuhalten
Die Aufgabe einer Führungskraft ist nicht, ein makelloses Vorbild zu sein (das wäre ohnehin unmöglich), sondern trotz innerer Widersprüche die Organisation zum Ziel zu bewegen.
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Widerspruch bei der Pünktlichkeit Auch wenn du selbst zu spät kommst: Lässt du Verspätungen durchgehen, bricht die Disziplin. Niemand spürt den Schmerz dieser Mahnung so deutlich wie du.
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Widerspruch bei ungeliebten Aufgaben Vielleicht bist du schwach in IT – aber deshalb kann das Team keinen Systemwechsel stoppen. Du musst sagen „Es ist nötig" und Aufgaben delegieren, selbst wenn du dich unsicher fühlst. Das schlechte Gewissen verschwindet nicht.
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Widerspruch bei Emotionen Du bist selbst nicht immer beherrscht, musst aber von Mitarbeitenden ruhige, sachliche Berichte und Urteile einfordern.
Widersprüche verschwinden nicht. Führung bedeutet, sie zu integrieren und trotzdem Fortschritt zu ermöglichen – das ist das Schicksal der Rolle.
Ohne Regal-Fähigkeit steht die Organisation still
Auf den ersten Blick wirkt es bescheiden zu sagen: „Ich verlange nichts, was ich selbst nicht schaffe." Persönlich mag das sympathisch sein. Organisatorisch führt es in den Stillstand.
- Regeln verlieren ihre Wirkung, die Disziplin erodiert.
- Neue Initiativen hängen davon ab, was du selbst magst oder kannst.
- Mitarbeitende halten deine Grenzen für ihre eigenen.
Wer sich nicht aufs Regal stellen kann, beraubt die Organisation ihrer Entwicklungschancen.
Unverblümtes Regal-Verhalten zerstört Führungskraft
Achtung: Wer dies als Entschuldigung missversteht, ruiniert Leistung und Glaubwürdigkeit.
Führungskräfte, die selbst keinen Finger rühren und nur Forderungen stellen, verlieren rasch das Vertrauen. Ihre Worte werden hohl, Anweisungen leerlaufend. Früher mochte Drohen funktionieren – heute endet so die Karriere.
Sich aufs Regal zu stellen ist nicht gleichbedeutend mit Arroganz. Der Unterschied heißt Schmerz.
Management heißt, den Schmerz auszuhalten: Du musst dich selbst aufs Regal stellen, spürst dabei aber ständig den Widerspruch, reflektierst, lernst – und führst trotzdem weiter.
Arrogante Menschen fühlen diesen Schmerz nicht. Sie lasten ihn anderen auf.
Die gesuchte Eignung lautet daher: sich aufs Regal stellen und den Schmerz weiter spüren.
Im Vergleich zu gängigen Eignungskriterien
Typische Listen für Führungskräfte führen zum Beispiel auf:
- Kommunikationsfähigkeit – Situationen verstehen und klar vermitteln
- Entscheidungskraft – unter Druck urteilen können
- Fairness und Integrität – Menschen unter konsistenten Regeln behandeln
- Problemlösungskompetenz – Konflikte konstruktiv verarbeiten
- Visionskraft – Richtung geben und andere einbinden
Studien wie Gallups State of the American Manager (2015) oder „Why Great Managers Are So Rare" (2014) – und viele weitere Publikationen – betonen diese Punkte.
In der Praxis reicht das nicht. Wenn du tatsächlich all diese Ideale verkörperst, schön. Aber …
- Strebst du absolute Fairness an, kannst du wegen deiner eigenen Unvollkommenheit niemanden zurechtweisen.
- Verlangst du perfekte Entscheidungen, bleibst du in unbekannten Feldern stecken.
- Berufst du dich übermäßig auf Integrität, wächst die Versuchung, Anforderungen zu vermeiden: „Ich kann es selbst nicht, also sage ich nichts."
Diese Listen beschreiben Idealfiguren. Um alltagstauglich zu sein, brauchst du zusätzlich die Fähigkeit, kognitive Dissonanz zu ertragen und trotz Widerspruchs weiterzuführen – sprich: die Regal-Fähigkeit.
Fazit – Führen heißt bewegen, nicht perfekt sein
Neben all den bekannten Eignungsmerkmalen zählt in der Realität vor allem die Fähigkeit, sich selbst aufs Regal zu stellen. Führungskräfte tragen Widersprüche, bitten andere um Leistungen jenseits der eigenen Grenzen und spüren den Schmerz dabei – und doch treiben sie die Organisation voran.
Das ist keine Lizenz für Bequemlichkeit, sondern wird nur legitimiert, wenn du den Widerspruch dauerhaft fühlst.
Wer akzeptiert, unvollkommen zu sein und trotzdem führt, zeigt echte Management-Eignung.
Reflektiere mit dir selbst:
- Blockierst du Herausforderungen, weil sie nicht deine Stärken sind?
- Bist du dir deiner Widersprüche bewusst, wenn du andere anleitest?
- Arbeitest du an dir, um das, was du aufs Regal stellst, auszugleichen?
Literatur
- Gallup, Inc. State of the American Manager: Analytics and Advice for Leaders. Gallup Press, 2015. 👉 https://www.gallup.com/services/182216/state-american-manager-report-2015.aspx
- Gallup, Inc. „Why Great Managers Are So Rare." Gallup Workplace, 2014. 👉 https://www.gallup.com/workplace/231593/why-great-managers-rare.aspx
- Jack Zenger & Joseph Folkman. „The Skills Leaders Need at Every Level." Harvard Business Review, Juli–August 2014. 👉 https://hbr.org/2014/07/the-skills-leaders-need-at-every-level
- Marcus Buckingham. „What Great Managers Do." Harvard Business Review, März 2005. 👉 https://hbr.org/2005/03/what-great-managers-do