Das Dilemma der Personalentwicklung: Sollten wir Top-Performer fördern oder Nachzügler aufholen lassen?
Einleitung – Gibt es eine Antwort auf dieses klassische Dilemma?
„Sollte eine Führungskraft ihre Zeit darauf verwenden, die Leistungsstarken weiter auszubauen, oder sollte sie mehr in jene investieren, die zurückliegen?“
Wer zum ersten Mal ein Team führt, hat sich diese Frage garantiert gestellt. Gleichbehandlung, das Anheben des Niveaus – diese Ideale klingen schön. Doch im Alltag mit echten Menschen werden sie gnadenlos geprüft.
Aus meinen eigenen Fehlversuchen musste ich eine Antwort formen: Du solltest deine Zeit in jene investieren, die bereits leisten können.
Eine Fehlgeschichte – Ein Jahr für „Herrn X“
Beginnen wir mit einer alten Episode. Als ich erstmals Manager wurde, betreute ich ein Zehn-Personen-Team, darin ein notorischer Low Performer – nennen wir ihn Herr X.
Sein Verhalten war in vielerlei Hinsicht problematisch.
- Er schlief überall und jederzeit ein und reagierte aggressiv auf Hinweise. (Wir schickten ihn einmal zum Arzt, so gravierend war es, doch medizinisch wurde nichts gefunden.)
- Er hörte anderen nicht zu.
- Seine Fehlerquote war hoch.
- Sein Stolz war immens; bei Feedback schmollte er offen.
Alle vorherigen Vorgesetzten hatten kapituliert. Ich hingegen glaubte: Wenn ich Herrn X zur Stütze machen könnte, würde das ganze Team profitieren. Ein Jahr lang investierte ich mehr als die Hälfte meiner Coaching-Zeit in ihn – erklärte, warum Schlafen im Dienst ein Problem ist, analysierte gemeinsam Fehlerursachen, übersetzte abstrakte Appelle in konkrete Handlungen. Ich sprach ernsthaft mit ihm und arbeitete hart.
Das Ergebnis? Nichts veränderte sich. Was in ihm vorging, weiß nur er, doch für mich war es, als würde ich gegen eine Wand reden.
Natürlich ist dieser Fall extrem. Ich behaupte nicht, dass jeder Low Performer hoffnungslos ist. Mit passenden Chancen können Menschen mit Potenzial enorme Sprünge machen.
Aber die Zeit, die ich in Herrn X investierte, war zumindest in der Phase, in der ich sein direkter Vorgesetzter war, nahezu verschwendet. Im Rückblick musste es für die übrigen neun Teammitglieder unfair wirken – womöglich drückte es sogar die Moral.
Ich war so fixiert darauf, einen einzigen Mitarbeitenden zu retten, dass ich den übrigen neun die Chance nahm, zu wachsen. Ich glich jemandem, der Wasser in einen löchrigen Eimer gießt.
Eine Kehrtwende um 180 Grad – In Leistungsstarke investieren
Danach änderte ich meinen Kurs radikal. Ich konzentrierte den Großteil meines Coachings auf einige vielversprechende Mitglieder.
Ja, Talente entwickeln sich auch ohne Zutun. Aber indem ich ihnen Geschäftsframeworks, Einsatzszenarien, Kundendenken und unverhandelbare Prinzipien vermittelte, schoss ihre Entwicklung sichtbar durch die Decke.
Mehr noch: Sie begannen, die Kolleginnen und Kollegen zu beeinflussen, die ich nicht hatte erreichen können. Selbst Herr X schien sich gegenüber der Zeit, in der ich ihn direkt betreute, zu verbessern – befeuert vom Fortschritt seiner Umgebung.
Die Lektion war eindeutig: Wer die Leistungsstarken stretcht, hebt am schnellsten die gesamte Organisation.
Psychologische Perspektive – Pygmalion- und Golem-Effekt
Die Pädagogik kennt zwei bekannte Effekte.
- Pygmalion-Effekt: Wer hohe Erwartungen spürt, steigert seine Leistung.
- Golem-Effekt: Wer merkt, dass nichts erwartet wird, fällt in der Leistung ab.
Wem wir unsere Erwartungen schenken, beeinflusst dessen Wachstum direkt. Zeit muss nicht gleich verteilt werden. Erwartung ist ein Signal für Vertrauen in das Potenzial – darum ist es rational, sie mitsamt Ressourcen auf jene zu fokussieren, deren Entwicklung bereits sichtbar ist.
Organisationstheoretische Perspektive – Abnehmender Grenznutzen und Ressourcenzuteilung
Leihen wir uns ein Konzept aus der Ökonomie: den abnehmenden Grenznutzen.
- Eine Stunde bei einem Top-Performer verwandelt sich schnell in greifbare Ergebnisse.
- Eine Stunde bei einem Low Performer bringt kleine Fortschritte und wenig Spillover.
Wie ich in einem früheren Artikel schrieb, bedeutet Management, Ressourcen fortlaufend am Ziel auszurichten. Zeit ist eine der knappsten Ressourcen. Sie gehört dorthin, wo die Rendite am höchsten ist.
Wie wir dem Fairness-Einwand begegnen
„Ist es nicht unfair, die Schwachen im Stich zu lassen?“ – Diese Frage taucht ständig auf.
Doch Fairness hat zwei Gesichter.
- Chancengerechtigkeit: Jede Person erhält Zugang zu Lernen und Herausforderung.
- Ergebnisgerechtigkeit: Alle erhalten dasselbe Wachstum zugesichert.
Organisationen sollten ersteres verfolgen. Eine Gleichverteilung mag oberflächlich „fair“ wirken, raubt aber den Engagierten die Motivation und lähmt die gesamte Organisation. Dies rechtfertigt jedoch keinesfalls, jemandem Chancen zu verwehren. Jede Person muss die reale Möglichkeit haben, sich anzustrengen und zu wachsen – das ist die Grundbedingung.
Fazit – Meine Schlussfolgerung
Durch meinen Fehlschlag mit Herrn X habe ich gelernt.
👉 Führungskräfte sollten ihre Zeit auf jene konzentrieren, die bereits Leistung zeigen – und sie zu neuen Höhen führen.
- Leistung folgt einer Long-Tail-Verteilung: Wenige an der Spitze erzeugen überproportionalen Wert und strahlen auf andere aus.
- Der Return on Investment ist bei Top-Performern offensichtlich höher.
- Wachsen sie schneller, ziehen sie andere mit – und heben so doch wieder das Gesamtniveau.
Wenn Management „alle Aktivitäten zur Zielerreichung“ umfasst, muss Ressourcenzuteilung auf Ergebnisverantwortung statt auf Gutmenschentum basieren. Für neue Führungskräfte ist die Entscheidung, wem sie Zeit widmen, überwältigend. Wähle zunächst eine Person, bei der kurzfristig sichtbare Resultate zu erwarten sind. Konzentriere dich testweise auf sie – so entsteht belastbare Erfahrung.
Ein Punkt, den niemand falsch verstehen darf
Das hier ist keine Geschichte darüber, dass Herr X unfähig war. Unfähig war ich – als sein Manager.
Vielleicht hätte jemand anderes sein Wachstum gefördert (tatsächlich schien ihn der Erfolg der später gewachsenen High Performer zu beeinflussen). Und auch meine Bewertung von Herr X ist eben nur meine Bewertung. Unter einer anderen Führung oder in einer anderen Rolle hätte er glänzen können. Wir wissen es nicht.
Doch solange ich der Manager war, ergab es keinen Sinn, weiter Zeit in eine Methode zu stecken, die keinen Effekt brachte. Mehr steckt nicht dahinter.
Wenn du Manager wirst, präge dir das ein. Sobald du beginnst, Untergebene, die „nicht leisten“, von oben herab zu betrachten, überschätzt du deine eigene Position.
Dieser Weg führt direkt zu Übergriffen, verzerrtem Charakter und anderen Fallen. Manager sind nur eine Rolle innerhalb der kleinen Welt eines Unternehmens. Vergiss das nie.
…Und noch etwas: Erkläre dieses Gedankengebäude nicht deinen Mitarbeitenden und lass es dir nicht anmerken. Wer merkt, dass er als „fähige Person“ gilt, könnte überheblich werden und scheitern. Wer fürchtet, als unfähig zu gelten, könnte noch weiter abrutschen. Behandle es als innere Maxime, wahre Fairness und nutze den Ansatz innerhalb dieser Leitplanken.
FAQ
F: Heißt das, dass man Schwache komplett fallen lässt? A: Nein. Gib ihnen grundlegendes Coaching und reale Chancen zur Verbesserung. Wenn du die Starken förderst, entsteht vielleicht indirektes Coaching, das auch den Schwächeren hilft – so war es am Ende bei mir.
F: Wachsen die Starken nicht sowieso? A: Doch. Aber mit fokussierter Begleitung und Chancen beschleunigt sich ihr Wachstum dramatisch. Sie einfach laufen zu lassen, ist verschenkter Hebel.
F: Wie bleibt man fair? A: Indem du Chancengerechtigkeit rigoros sicherst. Mach die Regeln transparent, sodass jede Person mit Einsatz und Ergebnissen an die Spitze gelangen kann.
Literatur & weiterführende Links
- J. Rosenthal & L. Jacobson (1968). Pygmalion in the Classroom.
- Robert K. Merton (1948). The Self-Fulfilling Prophecy.