Einleitung

„Die Unterlagen liegen bestimmt in OneDrive …“ – doch Fehlanzeige. Kolleg:innen erklären, dass ihre Abteilung Box nutzt, bis sich die Datei schließlich auf einem alten Fileserver findet.

„Gibt es von der Besprechung eine Aufzeichnung?“ War es Teams? Webex? Oder doch Zoom? Niemand weiß, wo gesucht werden soll.

In modernen Unternehmen führt jeder Komfort-Boost durch neue Tools dazu, dass niemand mehr weiß, wo Informationen liegen. Mehr Bequemlichkeit, weniger Effizienz – das ist das Paradoxon der Convenience.


Warum Tools sich ungebremst vermehren

Warum explodiert die Zahl der Tools in Unternehmen? Die Wildwuchs-Symptome sind überall sichtbar:

  • Kommunikation: Teams, Slack, E-Mail, Zoom-Chat, Webex
  • Speicher: OneDrive, Box, Google Drive, Fileserver
  • Wissensmanagement: Notion, Loop, Confluence
  • ITSM: Jira, ServiceNow, Zendesk
  • AI-Assistenten: ChatGPT, Copilot, Claude, Bard

Jedes Tool bringt echten Nutzen – und lässt sich, einmal etabliert, nur schwer wieder abschaffen. Das Resultat: Die Gesamtzahl steigt unausweichlich.

Zugleich ist die IT in vielen Anwenderunternehmen strukturell schwach, weil sie kein Geld verdient. Wenn das Fachteam „businesskritisch“ ruft, hat die IT kaum Hebel, um Nein zu sagen. Die Folge: Fachbereiche führen Tool um Tool ein, ohne dass jemand die Notbremse zieht.

Hinzu kommt Ergebnisorientierung in der Bewertung: Wer ein neues SaaS einführt, wird als Effizienzbringer:in gefeiert. Wer Tools entdeckt und verbreitet, sammelt Lorbeeren – manchmal sogar eine Beförderung. So befeuern sogar IT-Teams ungewollt den Wildwuchs.

Es ist menschlich: Niemand will schlecht bewertet werden.

Im Alltag klingt das dann so:

  • „Wo ist die Datei? Mail-Anhang? OneDrive? Box? Fileserver?“
  • „Dieses Protokoll – ist das das Teams-Transcript? Die Webex-Aufnahme? Zoom?“
  • „Haben wir die Freigabe in Slack eingeholt? Oder in Jira?“

So entsteht der tägliche Irrlauf – mit klaren Produktivitätsverlusten.


Warum Tool-Wildwuchs Produktivität kostet

Viele Unternehmen reagieren mit technischer Integration:

  • SSO/ID-Föderation: Ein Login für alle Tools.
  • iPaaS/RPA: Daten-Syncs, Automatisierung, Cross-Search.
  • AI-Assistenten: Copilot & Co. orchestrieren mehrere Tools.

Das verbessert die UX. Wer sich fragt, wo man sich einloggt, hat weniger Hürden.

Doch ein wichtiger Blickwinkel gerät in Vergessenheit.

👉 Technische Integration lindert UX-Schmerz, nicht aber die stetig steigenden Betriebskosten.

  • SSO macht Logins bequem, doch IdP-Lizenzen kosten extra.
  • iPaaS schafft Komfort, aber jeder neue Connector bringt Wartungsaufwand.
  • AI-Assistenten vermehren sich selbst – samt Gebühren und Schulungsaufwand.

Die Idee „Integration löst alles“ ist eine Illusion. Integrationsschichten kaschieren Verwirrung, lassen die Kostenlawine aber unangetastet – oft wachsen sie sogar weiter.


Wenn selbst Integrationsplattformen wuchern

Langfristig erleben wir ein Paradoxon: Selbst Integrationsplattformen geraten in den Wildwuchs.

  • Active Directory bündelte IDs – bis neue SaaS nicht passten. Also kam ein zweites IdP hinzu, später Azure AD (Entra ID). Jetzt koexistieren mehrere Systeme.
  • vCenter sollte VMs zentralisieren, konnte aber kein IaaS. Also kamen AWS und Azure dazu, gefolgt von Meta-Management für Multi-Cloud.

Diese alten Integrationsschichten sind noch enger mit Prozessen verwoben als Einzelsysteme – und lassen sich kaum noch abschalten. Sie werden zur Altlast.


Das echte Problem heißt Kostenstruktur

UX-Verwirrung lässt sich mit Technik glätten. Die eigentliche Gefahr lauert jedoch im verborgenen Kostenmodell.

  • Doppelte Lizenzen und Abogebühren
  • Mehrfach-Helpdesks
  • Abstimmungsaufwand, was „Standard“ ist
  • Trainings- und Lernkosten
  • Versteckte Schulden für Abschaltung oder Migration

Am Ende nutzt niemand die Tools voll aus, doch die Kosten sind „enterprise-tauglich“ – und bleiben es.


Strategien gegen SaaS-Wildwuchs: zähmen oder zentral steuern

Wie lässt sich das Paradoxon adressieren? Zwei Wege:

1. „Zähmen“ – Wildwuchs akzeptieren, aber kontrollieren

Nimm Tool-Vielfalt als gegeben und verankere Lebenszyklus-Management und Transparenz als Kultur:

  • Alle sechs Monate Inventur: Nutzung, Kosten, Funktionsüberschneidung.
  • Beim Roll-out Abkündigungsbedingungen definieren.
  • SaaS-Management-Plattformen zur Nutzungsauswertung einsetzen.
  • Mitarbeitende schulen: Tools haben eine Lebensdauer – wir halten sie aktiv im Blick.

2. Zentral steuern – Standards definieren, Abweichungen verbieten

Top-down-Standardisierung als Leitplanke. Erfolg braucht:

  • Tiefe Expertise: Technologien bewerten, Zukunftssicherheit einschätzen.
  • Feldnähe: Ohne Use-Case-Verständnis scheitert jede Richtlinie.
  • Erneuerungsfähigkeit: Standards alle paar Jahre aktiv überprüfen.

Fazit: Steuerung als Kern, Zähmung als Ergänzung

Tools werden weiter sprießen. Ohne Gegenmaßnahmen bleiben Chaos und Kostenlawine.

„Zähmen“ klingt sympathisch, bleibt aber unterstützend. Der Kern ist eine starke Governance und Standardisierung.

  • Zähmen: Risiken steuern, wenn Vielfalt unvermeidlich ist.
  • Steuern: CIO-Leadership, klare Standards, harte Entscheidungen.

Die realistische Kombination: Standards definieren und Governance ernst nehmen – flankiert von Zähmungs-Methoden.


FAQ

F: Warum lässt sich Tool-Wildwuchs kaum stoppen? A: Jede Abteilung hat andere Bedürfnisse. Ist ein Tool einmal verankert, lässt es sich kaum abschaffen. Ergebnisdruck belohnt Einführung, nicht Konsolidierung. Die IT hat oft keine Macht dagegen.

F: Warum lösen technische Integrationen das Problem nicht? A: Sie verbessern die UX, aber nicht die Kostenstruktur. Lizenzen, Betrieb und Schulungen bleiben – und Integrationsplattformen wuchern ihrerseits.

F: Gibt es Wege, den Wildwuchs zu zähmen? A: Ja – Inventuren, klare Exit-Kriterien, SaaS-Management-Plattformen.

F: Was wirkt am stärksten? A: Governance. Zähmen hilft nur unterstützend. Ohne klare Standards setzt sich der Wildwuchs fort.

F: Sind SSPM-Lösungen sinnvoll? A: Sie bieten Transparenz und helfen bei Inventuren. Aber sie stoppen den Wildwuchs nicht. Für die Wurzel braucht es Strategie und Durchgriff.